My Mexican Bretzel


„Verlangen, Lügen und Filmbänder”

Die Schweiz in der Mitte des 20. Jahrhunderts: Vivian Barrett, eine Frau aus der Oberschicht, gesteht ihre Sehnsüchte und Ängste in Form eines Filmtagebuchs und wird zum dokumentarischen Phänomen des Augenblicks.

Je weniger die Zuschauer*innen über dieses reizvolle Experiment lesen und erfahren, desto besser. So besticht My Mexican Bretzel durch seinen Inhalt: ein Douglas-Sirk-artiges Melodram über Untreue, versteckte Leidenschaften und die Unzufriedenheit des europäischen Bürgertums der 1940er, 50er und 60er Jahre. Vor allem aber zeichnet er sich durch seine Form aus. Nuria Giménez Lorang recycelt atemberaubende, auf 16mm und Super 8 gedrehte Bilder aus den Archiven der Familie (speziell von ihren Großeltern mütterlicherseits), um eine neue Geschichte zu erfinden, wobei sie die ursprüngliche Bedeutung der Bilder respektiert.

Die Texte der Tagebücher von Vivian haben eine hypnotische Schönheit; der Schnitt ist intelligent, denn die Regisseurin nutzt Ellipsen, um auf nur 70 Minuten Filmlänge beinahe 30 Jahre eines romantischen Lebens zu verdichten, und unterstreicht dabei die Verwendung des Tons – oder besser gesagt, das Fehlen davon, denn das phantasmagorische Design der Stille ist atemberaubend.

Giménez Lorang verwendet Bilder, die mehr als ein halbes Jahrhundert alt sind, um über zeitgenössische Dinge zu sprechen: einerseits über das weibliche Begehren, das von den Männern unterdrückt wird, und andererseits über das Post-Faktische. Die Autorin warnt uns, dass die Lüge nur eine andere Art ist, die Wahrheit zu sagen, und zwingt uns, die Fiktion des Kinos (und unserer Zeit) als eine Fabrik der Postwahrheiten zu hinterfragen. Man schaut diesen Film mit offenem Mund und pochendem Herzen und mit dem Gefühl, dass man so etwas im Kino noch nicht erlebt hat, denn My Mexican Bretzel ist äußerlich so brillant und evokativ, wie er innerlich komplex und pervers ist.

Daniel Sanchez Lopez

Die Regie

Nuria GÍMENEZ (*1976, Spanien) studierte Journalismus, Internationale Beziehungen und Dokumentarfilm. Nach ihrem Studium vertiefte sie ihr Wissen über das Filmemachen durch den Besuch von Masterclasses und Seminaren von Filmemacher*innen wie Virginia García del Pino, Wang Bing und Stephen Frears. 2017 drehte sie ihren ersten dokumentarischen Kurzfilm Kafeneio. Er wurde auf der DocumentaMadrid und dem Bogota Documentary International Film Festival gezeigt. My Mexican Bretzel (2019) ist ihr erster Spielfilm.

Filmografie:
– Kafeneio (2017, dokumentarischer Kurzfilm)
– My Mexican Bretzel (2019)

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